LitTipps Archiv Schöne Literatur

Katja Petrowskaja
Vielleicht Esther

 


Suhrkamp

 

Den Nachfahren der Holocaust-Überlebenden fehlt es oft an Geschichten und Bildern, die ihre Vorfahren beschreiben oder zeigen. Vielleicht hat sich die Autorin - "Ich bin eher zufällig jüdisch" – deswegen auf die Reise in Richtung Warschau gemacht. Ahnenforschung zu Fuß.

Die Namen überschlagen sich, schwer zu merken für den Leser, die Leserin, aber das ist auch nicht nötig: Die inneren Welten und Reisen, die Gefühle der Autorin sind eindrücklich.

Man mag es kaum glauben: Trotz der schweren Geschichte, die sie erzählt, bleibt sie in gewisser Weise heiter - es fällt immer ein Sonnenstrahl auf das Dunkel des Erzählten. Mira z.B., die Journalistin, ist durch eine erschreckende Anzahl von Lagern gegangen. Ein Blechnapf mit Familienfotos und Papieren rettete Mira durch die Vernichtungsmaschinerien. Am Ende ihrer Suche würde die Ich-Erzählerin nach Hause zurückkehren, ganz sicher. Aber sie weiß nicht, ob diese Rückkehr in der Sprache, im Raum oder in der Verwandtschaft lag. Fragmente eines zerbrochenen Familienmosaiks, bewegend erzählt in lapidaren Geschichten

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Juli Zeh
Über Menschen

 


Luchterhand

 

Dora flieht. Sie flieht aus der großen Stadt, aber nicht vor der großen Stadt. Sie will nicht ihr Leben durch den Anbau von Biotomaten entschleunigen, obwohl ihr Beruf als Werbetexterin durchaus stressig ist. Sie flieht vor ihrem Freund Robert, der wegen Corona zunehmend in Panik verfällt, der angesichts des Klimawandels in den Katastrophenmodus wechselt und das alles nun auch noch genießt.

Dora flieht nach Bracken, ein Dorf in der Prignitz, kauft dort ein verwahrlostes Grundstück einem ebensolchen Haus. Ihr fehlt es an allem: an Auto oder Rad, Möbeln und Werkzeugen – schlechte Voraussetzungen, um dem überwucherten Land Kartoffeln zu entlocken.

„Ist das dein Scheißköter?“ Ein kahlgeschorener Schädel guckt über den Mauerrand, er gehört zum Nachbarn, der sich vorstellt: „Ich bin hier der Dorf-Nazi.“ Man ahnt es schon: Hier soll ein Klischee destruiert werden und es soll nicht das einzige bleiben. Gote, der rechte Nachbar erweist sich als für seine Verhältnisse recht hilfsbereit. Dabei wird seine Bösartigkeit keineswegs verschwiegen.

Dora merkt, dass sie sich für etwas Besseres hält und erschrickt. Genau dieser Gedanke war es, den sie an Robert nicht ertragen konnte! Sie fragt sich, ob es denn immer besser sei, zu den Guten zu gehören, und macht die Erfahrung, dass die Dörfler nicht verrückter sind als die Städter, nur eben auf ihre eigene Weise.

„Über Menschen“ ist der erste Roman, der mitten im Lockdown im Frühjahr 2020 spielt und von den gesellschaftlichen und ganz privaten Folgen der Pandemie erzählt.  Und er ist mehr: über Menschen halt, hier darf Unversöhnliches versöhnlich enden.

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Benedict Wells
Hard Land

 


Diogenes
 

Eigentlich sollte man beim Lesen dieses Buchs Musik von Bruce Springsteen, ELO oder Steve Miller hören. Dann ist man wenigsten schon akustisch in der Zeit, in der der 15-jährige Sam seine entscheidenden Schritte ins Erwachsenenleben macht. Fehlt noch der Ort: Grady in Missouri, eine Kleinstadt, in der nur die Tristesse groß ist. Ach ja, der Inhalt. Den fasst Benedict Wells, selbst Jahrgang 1984 und mit diesem Zeitalter völlig unvertraut, gleich zu Anfang des Buches so zusammen: „In diesem Sommer verliebte ich mich, und meine Mutter starb.“

Um der Verschickung zu nervenden Verwandten zu entgehen, nimmt Sam einen Job im Kino der Stadt an. Dort trifft er auf vier andere Jugendliche, die dort abhängen (das Wort chillen war noch nicht erfunden!): Brandon, hochgewachsener Football-Spieler und deswegen Hightower genannt, der schlagfertigen Cameron, der auf Männer steht, und die schöne, draufgängerische Kirstie, die schon einen älteren Freund hat. Sam ist der Jüngste und wird erst nach einiger Zeit in den Freundeskreis aufgenommen und verliebt sich fast zwangsläufig in Kirstie. Wann immer sie sich treffen, werden tiefsinnige Gespräche geführt, z.B. wie man am schnellsten aus dem trübsinnigen Kaff herauskommen kann und was für ein aufregendes Leben man dann am College führen wird.

Benedict Wells gelingt es in berührender Weise, die Gefühlwelten zu beschreiben, leicht und klar und fließend, manchmal jedoch bleibt man an dem ein oder anderen Satz hängen wie an einem Fels im Fluss: „Einerseits zerreißt's dich vor Glück, gleichzeitig bist du schwermütig, weil du weißt, dass du was verlierst oder dieser Augenblick mal vorbei sein wird." Damit beschreibt Kirstie das Gefühl der ausgehenden Jugend und das Jahr von Sam. Und sie hat sogar ein Wort dafür erfunden: Euphancholie. Keine einfache Zeit, diese Jugend.

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Ferdinand von Schirach
Gott

Ein Theaterstück


Luchterhand
 

10.000 Menschen nehmen sich in Deutschland jährlich das Leben, oftmals auf für sie selbst und andere grausame Weise. In dem Theaterstück geht es um Herrn Gärtner, 78 und gesund, der nach dem Tod seiner Frau nicht mehr leben will - einfach so. Dafür beantrage er beim Bundesinstitut für Arzneimittel eine tödliche Dosis Natrium-Pentobarbital, was ihm verweigert wurde. Nun wird dieser Fall vor dem Deutschen Ethikrat verhandelt, der aber im Buch eingedampft ist auf Gärtners Rechtanwalt Biegler und Frau Keller, die in etwa die Positionen von Verteidigung und Staatsanwaltschaft übernehmen.

Geladen sind Gärtners Ärztin, eine Professorin für Verfassungsrecht, ein Vertreter der Bundesärztekammer und ein katholischer Bischof - allesamt also hochrangige Vertreter ihrer Zunft, gebildet und belesen.

Trotz des hohen Niveaus der Befragungen blitzt oft eine nur mühsam beherrschte Aggression auf. Dabei geht es nicht um die nach wie vor verbotene aktive Sterbehilfe, auch nicht um den erlaubten Abbruch der Behandlung auf Wunsch des Patienten. Es geht schlicht darum, ob ein Mensch das Recht hat, sein Leben würdevoll zu beenden und dabei die Hilfe eines Arztes in Anspruch zu nehmen. Es geht darum, wem das menschliche Leben gehört. Sowohl der Vertreter der Ärztekammer als auch der Bischof sind konservativ gezeichnet, im Bischof vermischen sich zudem noch evangelische und katholische Positionen.

Schirachs Stück ist darauf angelegt, dass das Publikum am Ende zu einer Entscheidung aufgefordert wird. Das lässt sich auch im Unterricht durchführen, es ist durchaus denkbar, es in der Schule für eine Klasse oder Oberstufe zu inszenieren. Dabei sind die konservativen, teils verbohrten Positionen wohl gar nicht hinderlich, befördern eher die Argumentations-Energie. Alles in allem ein wertvoller und gut informierter Debattenbeitrag.

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Ben Lerner
Die Topeka-Schule

 


Suhrkamp

 

Reden, um nach vorne zu kommen - dieses Spiel kennen Männer gut. Und genau darum geht es auch im Roman des New Yorker Erfolgsautors Ben Lerner: Adam, Sohn einer erfolgreichen feministischen Autorin und eines Psychiaters, geht auf die Topeka-Highschool.

Er nimmt an einem nationalen Debattierwettbewerb teil, einer Kunstform, die in den USA einen hohen Stellenwert hat. Adam erkennt schnell, dass es hier weniger um gute Argumente als um Überwältigung geht. Oder darum, den anderen an die Wand zu reden. Die Kunst der schönen Rede ist schon lange keine mehr.

Adam verliebt sich in Darren, von der er nicht weiß, dass sie bei seinem Vater in Behandlung ist. Er führt sie in seine Kreise ein - mit desaströsen Folgen.

Und Adam ringt wie seine Eltern mit dem, was man Männlichkeit nennt, eine Form von Männlichkeit, die die gegenwärtige amerikanische Gesellschaft spaltet und zersplittert. Schon seine Mutter kämpfte damit, dass sie als Frauenrechtlerin und Psychologin zu Erfolg kam. Sein Vater kam auch zu Erfolg, allerdings dadurch, dass er keinerlei Interesse zeigte aufzusteigen.

Mehr und mehr werden die Rituale von Männlichkeit Adam suspekt, einer Männlichkeit, die gerade deshalb so dominant ist, weil sie im Gewand der Sprache daherkommt. Der Roman zeigt so den von vielen beobachteten Zusammenbruch von öffentlicher und privater Sprache in den USA.

Sprachlich ist der Roman ein Genuss, es ist wie Wellenreiten auf einer Woge von Worten.

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Christiane Neudecker
Der Gott der Stadt

 


Luchterhand
 

Januar 1912 und 1995. Einmal versinkt der finstere und rätselhafte Schriftsteller Georg Heym 24-jährig beim Schlittschuhlaufen im Wannsee und ertrinkt, zum anderen erhängt sich ein Mensch an der Theaterdecke der Piscator-Schauspielschule in Berlin - Anfang des Buches, zugleich auch dessen Ende. Dazwischengespannt die Erzählung der Novizen dieser elitären Theaterschule, die von ihrem Professor auf das Faust-Fragment des Schriftstellers Heym angesetzt werden. Sie verirren sich in den düsteren Gedanken-Labyrinthen des Dichters, einer findet nicht mehr heraus: am Ende baumelt ein Toter auf der Probebühne der Schule.

Es gibt keine Verknüpfungen, und doch ist alles verbunden - fragmentarisch halt. Die DDR-Theaterlegende Korbinian Brandner hetzt seine Regie-Klasse auf die Heym-Schnipsel zu Goethes Faust, teilt jedem ein Fragment des Fragments zu. Sie sollen für sich und doch gemeinsam ein Stück inszenieren. Katharina, Tadeusz, Schwarz, François und Nele haben die fünf begehrten Plätze ergattert und versuchen nun, ihr Schnipsel zu deuten. Die Autorin wechselt nun die Erzählperspektive, weg von Katharina, in der sie sich selbst beschreibt, hin zu und hinein in die anderen Personen, die Tiefe und Kontur gewinnen. So wird z.B. aus der schönen und bereits erfolgreichen Nele eine verzweifelte, weil verlassene junge Mutter, schuldbewusst und liebesuchend.

Jeder begegnet dabei seinem eigenen Dämon, jede muss sich mit dem Teufel einlassen, um dem angebeteten Professor zu gefallen, jeder muss sich fragen: "Wie weit geht man für die Kunst?" Der geheimnisvolle Theaterguru mit seiner Ost-Patina befeuert das teils grausame Spiel satanisch. Aber das lebendige Denkmal bekommt Seite um Seite Risse.

Das Faustische brennt sich mehr und mehr durch die 700 Seiten, die sich gut lesen lassen. Näher und näher kommt man dem Ende und der Antwort, wer denn an seinem Dämon zerbrochen ist.

Ein literarischer Hexenofen, in dem viele Gewissheiten in Flammen aufgehen - so schreibt der SWR - zu hören hier

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Amélie Nothomb
Die Passion

 


Diogenes
 

Jesus ist gefangen genommen worden, ihm wird der Prozess vor Pilatus gemacht. Die Nutznießer der Wunder des Mannes aus Galiläa klagen: Der nun sehende Blinde darüber, wie hässlich die Welt sei, der einst Aussätzige beschwert sich, dass die Almosen nun ausblieben, Lazarus über den zurückgebliebenen Leichengeruch. Jesus wird zum Tode verurteilt und man folgt den Gedanken Jesu durch die Nacht, auf dem Weg nach Golgatha, am Kreuz und selbst darüber hinaus.

Jesus blickt auf sein Leben zurück, auf seine Liebe zu Maria Magdalena, er denkt an das Weinwunder zu Kana, daran, wie Judas, der nie lügen konnte, zu ihnen kam. Je näher er seinem Tod kommt, desto mehr rechtet er mit Gott, seinem Vater. Der sei zwar die Liebe, weil er aber körperlos sei, könne er nicht lieben. Jesus hingegen weiß, dass er der "bestverkörperte" Mensch ist, fähig zu unglaublicher Lust und unfassbarem Schmerz. "Das Tiefste am Menschen ist seine Haut" und direkt darunter sitzt die Allmacht, die Kraft, mit der er Wunder bewirkte.

Je weiter man sich in diesem Buch nach vorne liest, desto dringender wird die Frage, wie es denn enden wird: Die Auferstehung ist für Nothomb eine Transformation, ein Wirken und sich Wenden - aber mehr sei nicht verraten.

Das "Siegertrio" von Jesus ist Liebe, Tod und Durst. Der letzte Begriff ist erstaunlich: Durst öffnet für den Jesus von Amélie Nothomb das Tor zum Mystischen. Das Ende des Hungers ist Sattheit, das Ende der Trauer Trost. Aber für das Ende des Durstes hat die Sprache kein Wort. Durst ist eine Lust, die das Begehren nicht mindert.

"Die Passion" ist ein Buch, das nicht in Konkurrenz zur Theologie tritt, sondern noch einen anderen, tiefen Zugang auftut.

Wer - anders als ich - des Französischen mächtig ist, kann sich hier einen Eindruck von der Autorin machen. Es reicht aber auch schon die Erscheinung!

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Dina Nayeri
Der undankbare Flüchtling

 


Kein&Aber
 

Wir reden oft über Geflüchtete und oft fällt dabei das Wort "Wirtschaftsflüchtling" - eine Abwertung der Menschen, die "nur" deswegen sich auf den Weg nach Europa oder den USA machen, um ein besseres Leben zu führen. Dina Nayeri gehört zu ihnen und nun redet ein Flüchtling über Flüchtlinge und eröffnet damit Welten.

Sie erzählt die Geschichte ihrer Mutter, die im Iran zum Christentum konvertierte und mit ihren Kindern auf verschlungenen Wegen floh - das alles geschildert aus der Perspektive des Mädchens, die ihren geliebten, aber nicht einfachen Vater zurücklassen musste. Dina Nayeri spricht von den Entbehrungen und Anstrengungen, von ihren Erfolgen, von den Erwartungen, dass sie sich immer unauffällig und dankbar in ihr neues Leben einfädeln sollte, sich aber dennoch in ihrer Exil-Existenz verhedderte. Sie studierte auf den besten Unis der USA, wurde zur Vorzeige-Migrantin, hochgebildet und erfolgreich. So blieb sie immer ein Flüchtling, der immer um Würde und Akzeptanz kämpfen musste.

Als Erwachsene kehrt sie an die Orte ihrer Flucht zurück, besucht Flüchtlinge, Aktivistinnen und Menschenrechtler und beschreibt ihre Geschichten klar und ohne Schnörkel, aber mit einer unglaublichen Intensität. Vielleicht gehen die Beschreibungen gerade deswegen so unter die Haut. Nach dem Lesen wird einem das Wort "Wirtschaftsflüchtling" nicht mehr so ungeschützt über die Lippen kommen.

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Yassin Musharbash
Radikal

 


Kiepenheuer & Witsch

 

Der neue Bundestagsabgeordnete der Grünen ist ein charismatischer Mensch: In einer sehr ausgleichenden Art geht er Probleme an, als liberaler Muslim schlägt er Brücken zur muslimischen Community. Er ist also drauf und dran, die explosive Stimmung zwischen den Religionen und Kulturen zu entschärfen.

Das aber macht ihn zum Ziel der Radikalen. Er erhält Drohbriefe, die er nicht sehr ernst nimmt. Seine palästinensische Assistentin Samaya ist da anderen Ansicht und sie wird recht behalten. In einer TV-Sendung fällt er einem Anschlag zum Opfer. Wer war's: Links oder rechts, politisch oder religiös? Öffentlichkeit, Presse und Politik sind sich rasch einig: ein Anschlag der Islamisten!

Die Menschen, die ihm nahestanden, wollen sich nicht mit dieser vorschnellen Deutung abfinden. Ein erster Hinweis für sie ist, dass Droh-Mails, die der Politiker aus dem rechten Lager erhielt, plötzlich verschwunden sind. Ein Terrorexperte, der die Lage für den Abgeordneten beurteilen sollte, macht sich auf und unterwandert eine rechte Zelle.

Er knüpft Kontakt zu seiner Ex-Freundin, die Journalistin bei einem Wochenmagazin ist. Die Beschreibung der Machtspiele, der grauen Eminenzen und des Umgangs mit Fakten und Fiktion lassen die journalistische Kompetenz des Autors erkennen. Im Kopf der Ex-Freundin macht sich ein beunruhigender Verdacht breit: Sollte tatsächlich ein Berliner Senator an der Spitze von gewaltbereiten Rechtsradikalen stehen?

Die Radikalen, gleich welcher Couleur, haben ähnliche Denkmuster. Sie brauchen einander, sie sichern sich gegenseitig die Daseinsberechtigung und Existenz. Der gemeinsame Feind ist der bedächtige, ja fast sanftmütige Intellektuelle, der in der Lage ist, verschiedene Perspektiven einzunehmen, ohne seine eigene Position beliebig werden zu lassen.

Ein Politthriller, der spannende Unterhaltung bietet, zugleich aber erschreckend aktuell und realistisch ist.

Mehr steht noch bei BücherRezensionen, sehr unterhaltsam ist auch der Reporter-Slam mit dem Autor.

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Sorj Chalandon
Am Tag davor

 


dtv

 

Nach den ersten Seiten wollte ich erst gar nicht weiter, es zog mich nach unten. Schuld und Verdrängung, das Leben in einem Kohlerevier, die tragische Geschichte zweier Brüder - das sind die Eckpunkte des beeindruckenden, aber zuerst düsteren Romans.

Die Geschichte nimmt ihren Anfang mit dem Grubenunglück am 27. Dezember 1974 auf der Zeche Saint-Amé im Norden Frankreichs. Am Tag vor der Katastrophe fährt der 16jährige Michel mit seinem geliebten großen Bruder Joseph auf einem Moped durch die Stadt. Am Tag darauf kommen 42 Bergmänner ums Leben durch einen fatalen Fehler der Werksleitung. Joseph stirbt 26 Tage später und wird nicht zu den Opfern gezählt.

Michel flüchtet nach Paris mit den Worten seines Vaters in den Ohren: "Räche uns an der Zeche!" Denn er hatte seinen Sohn gewarnt vor dem Beruf des Bergmanns. Vier Jahrzehnte später - nach dem Tod seiner Frau - kehrt Michel zurück in seine Heimat und sucht den verantwortlichen Steiger auf, um endlich Rache zu nehmen. Ganz langsam dringt man in das Innenleben des Icherzählers Michel ein, erst im dritten Drittel gibt es einen Hinweis darauf, was an jenem "Tag davor" wirklich geschehen ist. Denn am Ende ist alles anders.

Besonders packt die Sprache: schlicht, ohne Pathos, aber doch ungemein bewegend. Die ersten düsteren Seiten fallen schwer, man liest sie am besten an einem sonnigen Tag - das tiefe Schwarz der Kohle. Aber dann greifen Spannung und Tiefgründigkeit.

Sehr genau ist wie so oft der Deutschlandfunk.

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Ian McEwan
Maschinen wie ich

 


Diogenes
 

Es ist ein furioses Buch, das einen von der ersten Seite an in sich hineinzieht: Der Lebenskünstler Charlie kauft sich vom Erbe einer entfernten Tante einen der ersten lebensechten Androiden. Adam scheint aus Fleisch und Blut zu sein, ein richtiger Mann, obwohl im Inneren doch nur Schaltkreise sein Handeln bestimmen. Nachts muss er wie ein Handy an die Strippe zum Aufladen und verfällt in eine Art Starre. Außerdem hat er im Nacken einen Knopf, der ihn augenblicklich abschaltet. Vorsichtig nimmt er ihn mit auf erste Ausflüge durch London, aber niemanden, auch dem vertrauten Zeitungshändler, fällt etwas auf. Adam hat ein sicheres, menschliches Auftreten.

Charlie ist frisch verliebt, Miranda wohnt über ihm. Adam, der unmittelbaren Zugang zu allen Informationen des Netzes hat, stößt eine Warnung aus: Es bestünde die Wahrscheinlichkeit, dass Miranda eine systematische, böswillige Lügnerin sei. Charly drückt auf den Knopf.

Um Miranda zu binden, beteiligt er sie an der "Erziehung" von Adam. Sein Charakter muss sich noch entwickeln, denn er hat keine Kindheitserinnerungen, keine Vergangenheit. Mit Hilfe Charlies und Mirandas Vorgaben entwickelt er eine Persönlichkeit.

Bald aber beginnt Adam, ein eigenes Leben zu führen - und das ist ja auch gewollt. Was Charlie aber nicht wollte ist, dass Adam mit Miranda Sex hat. Die zeigt sich aber von Charlys Eifersucht unbeeindruckt, man könne doch nicht mit einer Maschine fremdgehen. Haben Androiden Gefühle?

Miranda selbst ist ein eigenwilliger Charakter - vorsichtig ausgedrückt. Noch dazu bedroht sie ein Strafgefangener damit, sie nach seiner Entlassung umzubringen. Die Geschichte, die sie mit sich herumträgt, ist von einer unglaublich existentiellen Tiefe. Und nun ist es an Adam, dafür eine Lösung zu finden.

Es ist ein Buch voller ethischer und theologischer Dilemmata, mit denen ich meine Schüler*innen demnächst konfrontieren werde - was hat der Mensch dem Computer noch voraus?

Die religionspädagogische Zeitschrift BRU, die sich an Lehrkräfte an den beruflichen Schulen wendet, hat ihre neueste Ausgabe dem Thema gewidmet und auch McEwan in die Materialien zum Unterricht aufgenommen. Die SZ - wie auch alle großen Tageszeitungen - haben Rezensionen veröffentlicht. Und wer’s lieber als Video mag, dem seien die ersten 18 Minuten des Literaturclubs des SRF anempfohlen.

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Regina Scheer
Gott wohnt im Wedding

 


Penguin
 

Wer fast 130 Jahre auf dem Buckel hat, kann was erzählen: von der Weimarer Zeit, von den jüdischen Bewohnern, vom Widerstand gegen die Nazis im „roten Wedding“ in Berlin. Ein altes Haus hat halt viel zu erzählen. Jetzt sind es Roma, die wie Herbstlaub in Berlin - auch zu DDR-Zeiten - herumgeweht wurden und nun diesem Haus, das alt und klapprig geworden ist, eine besondere Art von Leben einhauchen.

Ganz oben wohnt Getrud, fast so alt wie das Haus, fast 100. Sie lebt seit ihrer Jugend hier, hat alles gesehen, gehört, gerochen. Leo Lehmann ist mit seiner Enkelin Nira aus Israel gekommen. Damals in den dunklen Zeiten, wurde ein im Straßengerangel umgekommener Hitlerjunge von den Nazis zum Märtyrer im Kampf gegen die Juden gemacht. Manfred, Leos Freund, wurde von den Nazis in der Wohnung von Gertrud deswegen verhaftet. Eigentlich will der Israeli nicht mehr an diese Geschichte heran, aber Laila, eine Roma, die mit großem Mitgefühl für die Hausbewohner da ist, bewegt ihn dazu. Sie ist es auch, die die 70 Jahre zwischen Leo und Getrud zusammenbindet. Überhaupt verbinden und kreuzen sich die Lebenslinien der Menschen in diesem Haus, alte Geschichten werden erzählt und helfen, die Gegenwart zu verstehen. So kann sich auch Gott am Schluss wieder im Wedding ansiedeln.

Sprachlich ist das Buch eine Wohltat, nicht zu leicht, nicht zu schwer, angemessen, einladend - man meint, den Geruch des Treppenhauses wahrzunehmen. Die taz beschreibt das Buch als eine recht scharf gestellte historische Sozialtopografie, kürzer fasst sich die Literaturwerkstatt.

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Andreas Eschbach
NSA

 


Lübbe

 

Was wäre, wenn … Hitler schon über die Computertechnologie unserer Zeit verfügt hätte? Ein literarischer Kunstgriff, der aber auch gewaltig in die Hose gehen kann. Tut er aber nicht. Eschbach führt in eine Zeit, in der die digitale Technik schon seit der Kaiserzeit eingesetzt wurde. Das Nationale Sicherheits-Amt (NSA) führt noch eine Randexistenz, überwacht die Elektrobriefe, kann jeden Kontostand abrufen, liest jede Diskussion im Deutschen Forum mit, ortet Telephone. Aber das Reichssicherheitshauptamt unter Himmler will prüfen, ob man das nicht selbst besser könne. Die Programmstrickerin Helene Bodenkamp muss ihm an ihrem Komputer vorführen, zu was das NSA in der Lage ist. Himmler will versteckte Juden aufspüren lassen und so verknüpft Helene geschickt verschiedene Tabellen. Wenige Minuten später wird eine gewisse Familie Frank in Amsterdam verhaftet.

Helenes Vorgesetzter Eugen Lettke verfolgt mit den Datenabfragen einen privaten Rachefeldzug. Er spürt alle Klassenkameradinnen aus seiner Schulzeit auf, die ihn gedemütigt haben. Helene ihrerseits versteckt auf einem Bauernhof einer Freundin einen Deserteur von der Ostfront, in den sie sich heimlich verliebt. Ihre Eltern wollen sie aber unter die Haube bringen, ausgerechnet mit einem hochrangigen Nazi namens Ludolf von Argensleben.

Eschbach gelingt es auf einzigartige Weise, technische Zusammenhänge und Möglichkeiten so zu erklären, dass sie einem wie selbstverständlich erscheinen - selbst wenn man von den digitalen Technologien überhaupt keine Ahnung hat.

Die erschreckende Seite an diesem Buch ist, dass man sich kaum ausmalen mag, was diese Technik in den Händen von despotischen Staaten anzurichten in der Lage ist. George Orwells „1984“ ist eine Kindergarten-Fantasie dagegen, betrachtet man sich z.B. die Entwicklungen in China. So macht man sich beim Lesen ständig Gedanken darüber, wie dieses Buch wohl ausgehen wird. 700 Seiten, die sich wie Butter lesen. Voll des Lobes ist auch der Bücherpapst der ARD Denis Scheck im Video

https://www.daserste.de/information/wissen-kultur/druckfrisch/videos/andreas-eschbach-nsa-video-100.html

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Carsten Schmidt
Ausgekafkat

 


Drava

 

Die gescheiterte Geisteswissenschaftlerin Tabea Thuleweit schlägt den Literaturprofessor Gothial scheinbar ohne Grund mit einem dicken Buch nieder. Es hat sich ausgekafkat! Da der sich schwer verletzt, landet sie im Gefängnis. Nun werden die Geschichten dahinter aufgedröselt, am Anfang etwas unübersichtlich, zum Ende webt sich alles zu einem Bild: Tabeas Bruder erahnt als Arzt in Afghanistan die Sinnlosigkeit seines Tuns, ihr gescheiterter Vater taucht in Rückblenden auf - eine scheinbar unbeschwerte Kindheit in der DDR. Er hatte seine Tochter auf dem Sterbebett zum Germanistik-Studium verpflichtet. Aber auch im - mittelhessischen - Gefängnis gibt es Menschen, deren Lebensgeschichte verstehen hilft, warum es zu so einer Tat kommen kann. Die Bibliothekarin im Knast führt ein Doppelleben als Prostituierte, die Mitgefangene Billie wollte eigentlich ein politisches Zeichen setzen. Schlüsselszenen sind die Sitzungen bei der Gefängnispsychologin. „Wer braucht so einen Dreck wie mein Wissen?“ fragt sich Tabea. Haben alle auf falsche Ziele gesetzt?

Dieser Roman zeigt die Arroganz der akademischen Welt ebenso wie die ignorante Haltung vieler Nicht-Akademiker.

Carsten Schmidt hinterfragt kritisch, ob eine bestimmte Form von Bildung und Kultur heute noch lebensfähig ist. Seine Figuren verhandeln das miteinander, ohne darüber zu reden - Subtext sozusagen. Dabei wird er aber nicht klischeehaft, beschreibt seine oft kauzigen Protagonist*innen warmherzig und einzigartig. Dazu passt, dass das Buch doch schlussendlich ein versöhnliches Ende findet. Mehr hier:

https://www.feuilletonscout.com/ausgekafkat-der-debuetroman-von-carsten-schmidt-fuehrt-uns-in-die-denkwelt-der-geisteswissenschaftler/

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José Saramago
Das Evangelium nach Jesus Christus

 


Atlantik

 

Zugegeben, kein neues Buch, nur neu herausgegeben. Zugegeben, kein einfaches Buch: Man braucht seine Zeit, um sich in die Sprache des Nobelpreisträgers einzulesen. Aber dann ist es wie in Trance, das Buch packt einem am Wickel und lässt nicht mehr los.

Wird im NT wenig erzählt von der Geschichte Jesu bis zu seinem öffentlichen Auftreten, so ist es im Buch umgekehrt. Saramago entfaltet Geburt, Kindheit und Jugend und bleibt am Ende eher zurückhaltend. Nach der Geburt steht Josef im Vordergrund: er ist der Vater von Jesus und prägt seinen Sohn. Saramago verweltlicht theologische Aussagen: So hat Josef keinen Traum, der ihn vor dem Kindermord in Bethlehem warnt, sondern er lauscht bei Soldaten. Das Ergebnis ist das gleiche. Er versteckt seine kleine Familie, flieht also nicht nach Ägypten. Aber das entscheidende ist, dass er Zeit seines Lebens darunter leidet, die anderen in Bethlehem in Verderben laufen zu lassen. Er hat fortan jede Nacht einen Albtraum, der ihn quält. Quasi als Buße dafür geht er in den Tod und wird als vermeintlicher Aufständischer von den Römern gekreuzigt. Und von diesem Tag an erbt Jesus seinen Traum und seine Schuhe.

Der Verkündigungsengel ist eine rätselvolle Gestalt. Als Hirte taucht er bei Maria auf, später, nach Josefs Tod, geht Jesus bei ihm in die Lehre. Er verrichtet keine Gebete, weiß alles über Jesus, scheint sowohl Fluch als auch Segen zu sein. Ganz biblisch ist die Gottesbegegnung in der Wüste. Gott verlangt von ihm das Opfer des geliebten Schafes.

Mit wunden Füßen von der Wüstenwanderung kommt er zum See Genezareth, wo er der selbstbewussten Prostituierten Maria aus Magdala begegnet, die ihm nicht nur die Füße pflegt. Sie verlieben sich, Maria gibt ihren Beruf auf. Jesus träumt nicht mehr den schrecklichen Traum, muss aber fortan mit der Prophezeiung Gottes leben und letztlich sterben.

Sehr spannend, was die Theologiestudierenden dazu zu sagen haben, Zeitgeschichte und Kritik des Buches durch die katholische Kirche findet sich in der deutsch-chilenischen Wochenzeitung.

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Robert Seethaler
Das Feld

 


Hanser

 

Ein Mann namens Harry sitzt auf einer Bank auf einem Friedhof und betrachtet die Grabsteine. Und diese fangen an, die Geschichte der Menschen zu erzählen, die unter ihnen liegen. Nun reiht Robert Seethaler eine Lebensgeschichte an die andere, manche kurz, nicht einmal eine Seite, manche lang, ausführlich. Zuerst sind es nur lose Puzzleteile, weit verstreut.

Die Toten selbst erzählen ihr Schicksal und das findet Harry richtig: „Er dachte, dass der Mensch vielleicht erst dann endgültig über sein Leben urteilen konnte, wenn er sein Sterben hinter sich gebracht hatte.“ Aber ganze Biografien werden nicht erzählt, was aber erzählt wird, folgt keiner Regel, sogar die Sprache wechselt von Geschichte zu Geschichte.

Am Anfang kennt man nur den Namen der Stadt, in der diese Leben gelebt werden: Paulstadt. Im Kopf hatte ich eine leere Karte. Die feine Kunst des Autors besteht darin, auf dieser Karte Bilder entstehen zu lassen, von Häusern, Stuben, Arbeitsplätzen, vom Lehrer, Finanzbeamten, Gemüsehändler, von der Schuhladenbesitzerin. Die Geschichten sind überschaubar und der Stil im guten Sinne schlicht: Seethaler hat einmal von sich gesagt, er schreibe wie ein Holzschnitzer schnitzt. Alles Überflüssige komme weg.

Dennoch verlangt das Buch hohe Aufmerksamkeit: Denn Seethaler spinnt die Fäden zu einem lebendigen Bild einer kleinen Stadt. Aber das scheint nicht sein eigentliches Ziel zu sein - er erzählt von der Gelassenheit und Sanftheit des gelebten Lebens, obwohl sich neben den stillen Geschichten ohne Höhen und Tiefen auch dramatische Schicksale finden. Am Ende klappt man das Buch sehr langsam zu, legt es vor sich und sagt: "Ja, so ist es!"

Die Einschätzung des Deutschlandfunks ist HIER zu hören, einen Beitrag der aspekte-Redaktion gibt es HIER.

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Usama Al Shahmani
In der Fremde sprechen die Bäume arabisch

 


Limmat

Der 1971 in Bagdad geborene Autor erzählt von seinen Erfahrungen der Flucht in die Schweiz und von den Schwierigkeiten seiner Beheimatung. Noch während des Asylverfahrens erreicht ihn die Nachricht vom Verschwinden seines Bruders Ali. Selbstvorwürfe, Ungewissheit und Angst um seinen Verwandten zermürben ihn. Das Leben in der Fremde empfindet er als eine „Abwesenheit der Seele“ - er fühlt sich hilflos und machtlos, weit weg von Bagdad und seiner Familie. Er beginnt sich an einsame Orte zurückzuziehen.

In seinem Gefühl des Andersseins baut er eine besondere Beziehung zur Natur auf und verbindet mit ihr wichtige Erfahrungen und Personen. Nur in der Natur findet er das Gefühl von Heimat, Verständnis und Willkommen sein, sie ist für ihn ein Spiegel seines Selbst, ein Trost spendender Rückzugsort in Zeiten von Trauer und Angst.

Immer präsent sind aber die für ihn prägenden Ereignisse des Krieges. Seine Schilderungen sind erschreckend real, vergegenwärtigen das Leiden der im Krieg Lebenden auf eine direkte und persönliche Art und zeigen die nicht sichtbaren Spuren, die der Krieg hinterlässt.

Ein Roman voller unbeantworteter Fragen und Ungewissheiten, bestückt mit sprachlichen Bildern und Vergleichen, Parallelen zur arabischen Sprache sowie einigen arabischen Schlüsselworten. Er übernimmt die Schönheit und Poesie seiner Muttersprache ins Deutsche und schenkt dem Roman dadurch eine einzigartige sprachliche Intensität. Ein beeindruckendes Lese- und Spracherlebnis!

Sehr viel ausführlicher ist die Rezension von Frederike Middelhoff

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Iwan Turgenjew
Väter und Söhne

 


dtv

 

Ich habe so meine Schwierigkeiten mit klassischer Literatur, aber dieses 150 Jahre alte Buch hält einen in Atem. Es ist die Geschichte zweier Freunde, die im Russland des 19. Jahrhunderts, einer Zeit der großen Umbrüche, der Zeitenwende, gemeinsam ihre Väter besuchen. Basarow, Medizinstudent und Nihilist aus St. Petersburg, ist der radikalere der beiden: Wozu noch an alten Werten und Idealen festhalten - weg damit! Turgenjew hat den Begriffs des Nihilismus mit diesem Buch populär gemacht, eine Haltung, die die Möglichkeit verneint, objektiv Welt und Gesellschaft, Werte und Erkenntnis zu beschreiben.

Sein Freund Arkadi, ebenfalls Teil der radikal-liberalen Jugendbewegung ist da vorsichtiger, ängstlicher: Gelten die alten Wahrheiten der Väter noch? Die Leibeigenschaft war gerade abgeschafft worden, Arkadis und Basarows Väter sind Gutsbesitzer, bewegen sich ganz langsam in die neue Zeit. Die Liberalen aber setzen auf Konfrontation und Kollision.

Dann verlieben sich die jungen Männer noch in die gleiche Frau, eine starke Person in diesem Buch. Anna ist die Gegenfigur zu Basarow, an vielem interessiert, von wenigem befriedigt. Für ihn ist das die Probe aufs Exempel: Kann man sich als Nihilist überhaupt verlieben?

Das Buch löste beim Erscheinen ein wahres Erdbeben aus, leidenschaftliche literarische und politische Debatten, und man kann es gut in der heutigen Zeit lesen, in Zeiten der digitalen Revolution und Globalisierung, der Digital Natives und Digital Immigrants.

Der Deutschlandfunk findet es auch gut, dass hier eine Neuübersetzung entstanden ist.

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Jonas Lüscher
Kraft

 


C.H. Beck

 

Eine Million Dollar hat der Internet-Mogul Erkner ausgelobt für die Antwort auf die Frage, warum alles, was ist, gut ist und wir es dennoch verbessern können. Genau das Richtige für Richard Kraft, Rhetorikprofessor aus Tübingen, der sich in jungen Jahren schon opportunistisch einen marktliberalen Anstrich gab. Genau das Richtige, weil er Geld braucht, um seine unglückliche Ehe mit Heike aufzulösen. Er macht sich auf ins Silicon Valley und versucht zu schreiben.

Statt sich darauf zu konzentrieren, tauchen vor seinem Auge seine Beziehungen auf: Jede Frau eine Sackgasse. Die letzten 14 Jahre samt Zwillingen bezeichnet Heike als „Experiment“, das es zu beenden gilt, gibt ihm 14 Tage familienfrei. Er muss an Johanna denken, die Biologin aus den Studienjahren, die ihre Hefekulturen politikfrei betreute – ein Symbol für die Naturwissenschaft, die über die Poetik lacht. Vielleicht kann er sie jetzt nach vielen Jahren hier besuchen.

Auch seine Theorien haben ihren Sinn verloren, der alteuropäische Intellektuelle scheitert. Fuchs und Igel: Der Fuchs ist schlau und kann vieles, ist aber dem Igel, der nur eine Sache kann, unterlegen - Kraft wird immer mehr vom Fuchs zum Igel. Die millionenschwere Rechtfertigung der Technik scheitert trotzdem.

Es ist eine Abfolge von unglaublichen Szenen, sprunghaft, aber doch letztlich zusammengesetzt. Und man wundert sich, warum ein recht unsympathischer Mensch einen so in den Bann ziehen kann.

Spannend dazu der Literaturkritiker Andreas Isenschmid in 3sat

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Ulrike Edschmid
Ein Mann, der fällt

 


Suhrkamp

 

Eigentlich so gar kein Buch für mich, Liebesgeschichte mit dramatischer Lebenswende. Juli 1986: Ein Paar, das ein neues Leben anfangen will, renoviert eine Berliner Wohnung. Er fällt von der Leiter, querschnittsgelähmt. Er kämpft sich zurück, aber es wird nicht die abgedroschene Floskel vom "Willen" bemüht. Er kann sich wieder mit Stöcken fortbewegen, aber von richtigem Laufen kann nicht mehr die Rede sein. Das Fallen hört nicht auf – er fällt immer wieder, im Bad, auf dem Gehsteig, im Büro, im Supermarkt. "Er lernt zu fallen", heißt es an einer Stelle. "Ob es geht, wird sich zeigen, wenn er es tut. Sein Weg ist keine Rückkehr." Das Selbstverständliche erfährt jeden Tag eine radikale Umdeutung.

Die Kamera zieht auf, die Wohnung - Zufluchtsort und Beobachtungsstation - kommt in den Blick, das Haus, der Behindertenparkplatz, um den es einen ständigen Kampf gibt. Nebenbei wird es so zu einem West-Berlin-Buch. Das Leben draußen wird schneller, lauter, roher, gewalttätiger.

Bemerkenswert an dieser Autorin ist ihr Ton, ein ganz besonderer, beeindruckender Ton. Hier wird nicht gewertet, sondern geschildert. Nicht sagen, sondern zeigen, lautet eine alte Regel des Schreibens.

Doch ein Buch für mich!

Auch die Süddeutsche findet das Buch gut.

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Axel Hacke
Die Tage, die ich mit Gott verbrachte

 


Kunstmann

Der Autor sitzt auf einer Bank, über ihm im Haus hört man einen Ehestreit. Plötzlich schubst ihn ein alter Herr mit einer überraschend kräftigen Bewegung ins Gras. Sekunden später kracht auf eben jene Stelle aus dem Fenster oben ein schwerer Globus auf die Bank.

Von diesem Tag an besucht ihn der melancholische Alte oft. Manchmal ist er zu verrückten Streichen aufgelegt und lässt die steinernen Löwen in der Feldherrnhalle durch Feuerreifen springen. Eigenartige Begegnungen sind an der Tagesordnung: So die trotz Verbot rauchende Schlange, der der Alte mit den Worten „Irgendwie verbotsresistent!“ die Kippe aus dem Maul nimmt. Der alte Mann zeigt ihm nun seine Frühwerke, verworfene Schöpfungen, wie z.B. die Ein-Mann-an-einem-Schreibtisch-Welt, die eine unendliche Traurigkeit ausstrahlt. Irgendwie hadert Gott mit seinem Werk und sucht Zerstreuung und Unterhaltung. Als die Welt mal wieder von religiösen Eiferern erschüttert wird, trifft er Gott am nächsten Tag am Flaschencontainer. Er habe – quasi aus Trotz gegen moralischen Religionsbotschaften - das ein oder andere Gläschen Champagner trinken müssen. Aber es bleibt nicht nur der Zweifel an seiner Schöpfung, er führt auch einen riesigen Schmetterling in seiner ganzen Schönheit vor.

Ein schmales Bändchen voller Humor und Herzenswärme, schön illustriert von Michael Sowa. Theolog*innen müssen aber manche Seiten aber zweimal lesen, weshalb ich das Buch auf etwa 160 Seiten schätze.

Mehr Eindrücke gibt es bei „Christ in der Gegenwart“, von Christine Westermann und in der Leselupe.

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Gerd Theißen
Der Anwalt des Paulus

 


Gütersloher Verlagshaus

 

Erasmus, Anwalt in Rom, wird von Vertretern der jüdischen Synagoge darum gebeten, die Verteidigung eines gewissen Paulus zu übernehmen. Bevor er sich entscheidet, holt er überall Informationen über diesen umstrittenen Menschen ein. Sein philosophischer Freund Philedemos, rät davon ab. Aber Erasmus ist verliebt in Hannah, die kluge Tochter des Synagogenvorstehers. Sie ist es auch, die ihn im Verlauf der Geschichte zu den Christusanhängern mitnimmt.

Wenn ein renommierter Neutestamentler einen Roman schreibt, sollte man keinen Historienschinken wie Spartakus erwarten. Hier knistert keine Spannung, es ist eher ein Lehrroman, eine unterhaltsam lesbare Geschichte des Paulus und seiner Denkweise.

Mir hat gefallen, dass es keine fromme Heiligenlegende ist, sondern hier die Geschichte des Paulus und der Christen aus römischer Sicht erzählt wird: lästige Streitereien im Judentum also, die den Frieden Rom, die Pax Romana stören.

Spannend und zugleich hochaktuell der Dialog des Anwalts mit Paulus im Gefängnis über das Gesetz: Macht das Gesetz den Menschen besser, oder ist er besser ohne Gesetz? Vor allem aber will Erasmus eine Antwort auf die Frage, ob dieser Jude noch dieser Fanatiker geblieben ist, der er früher einmal war, als er die Christen verfolgt hat?

Am Ende wird es dann doch noch einmal leidlich spannend, aber darum geht es wohl auch nicht. Es kommt Theißen auf den Dialog an, in diesem Buch wird unentwegt geredet, und das alles hat seinen Sinn. Am Ende hat man sich auf leichte Weise eine kurze Theologie des Paulus angeeignet. Was will man mehr!

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Eugen Ruge
Follower

 


Rowohlt

Das ist eines der verrücktesten Bücher, das ich in letzter Zeit gelesen habe. Das merke ich immer daran, dass ich immer wieder Leuten davon berichten muss. Eugen Ruge erzählt eine finster-komische Geschichte aus der nächsten Generation, aus einer Zukunft, in der wir schon jetzt leben.

Aber zuerst zum Stil (hier gibt es Leseprobe!): Die Geschichte von Nio Schulz, der in China unterwegs ist, um die neueste Geschäftsidee seiner Firma zu vermarkten, wird ohne Punkt, ohne Satzende erzählt. Was bei vielen Autoren eher als bemühte Originalität daherkommt, wird bei Ruge zum „time tunnel“ hin zum Verschwinden von Nio aus der digital bestimmten Welt. Schwer, sich diesem Sog zu entziehen.

Nio schwimmt in einem Strom unaufhörlicher Informationen, die er in seine Brille eingespiegelt bekommt. Seine Welt ist „pc“, gegendert, optimiert: Männerfahrstuhl, Sonderbefähigte am Frühstückstisch, eumelanin-pigmentierte Menschen, Kaiserschmarrn eifrei, milchfrei, mehlfrei, ohne Zucker. Nio taumelt durch seine Welt wie in einer Wasserrutsche, einer Röhre voller aufblinkender Lichter und unerwarteter Richtungswechsel.

Dann am Ende des Buches ein unglaublicher Abschnitt: Vom Urknall an entwickelt der Autor die Unwahrscheinlichkeitsgeschichte, die zum Individuum Nio Schulz führt, die Unwahrscheinlichkeit der Entstehung des Kosmos, der Erde, des Lebens und dann durch die Menschheitsgeschichte hindurch die Unwahrscheinlichkeit der Generationenfolge. Und doch existiert er, um dann vom Radar der Überwachungsbehörden zu verschwinden und aus der Welt der Waren zu entfliehen. Wie gesagt, ein verrücktes Buch.

Etwas kritischer sieht das Burkhard Müller von der ZEIT

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Hanns-Josef Ortheil
Was ich liebe und was nicht

 


Luchterhand

 

Ach, viel kann man über dieses Buch gar nicht sagen. Doch, eines: jeden Abend habe ich mich gefreut, den Computer herunterzufahren, mich in den Sessel zu setzen und von Ortheils Vorlieben und Abneigungen zu lesen: über Musik hören und fernsehen, über Briefe schreiben und telefonieren, über Schwimmen im Meer und Fußball, übers Wohnen und den Garten, über Oasen und den Westerwald, über das Gotteshaus und innere Landkarten.

Es ist die Geradlinigkeit der Sprache und Freude am Leben, nicht ungetrübt, aber nach vorne gewandt, die den Lesegenuss ausmacht. Und zu jedem Kapitel schreibe ich mein eigenes dazu. Schade nur, dass das Buch auf Seite 363 aufhört.

 

Mehr hier:

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Feridun Zaimoglu
Evangelio

 


Kiepenheuer&Witsch

 

Zehn Wochen, nur zehn Wochen braucht der Wittenberger Professor Martin Luther, um auf der Wartburg das Neue Testament ins Deutsche zu übersetzen. Vogelfrei ist er und deshalb hat der Kurfürst von Sachsen angeordnet, ihn dort zu verbergen und festzusetzen.

Erzählt wird die Geschichte von Burkhard, einem zu seinem Schutz abgestellten Landsknecht, der sich aber mit der Arbeit Luthers schwertut: Die Übersetzung Gottes ins „Teutsche“ wird die Welt entzweien. Burkhard ist ein Altgläubiger, ein Römling, der aber seine Pflicht – allerdings kopfschüttelnd - ernst nimmt.

Beim Schreiben verabschiedet sich Zaimoglu von der Gegenwart und reist ins Jahr 1521, frisst zum Frühstück Rüben in heißer Asche gegart und gehobeltes Kraut, um mit Wanstreißen Sätze auszuspeien. So kommt er dem Sprachschöpfer Luther nahe, schlüpft in seine Haut. Und die Haut des Wittenberger Mönchspfaff wird zerfurcht vor lauter Angst vor dem Teufel, vor lauter Aberglauben, rötet sich vor Wut, schwitzt der vielen Sünden wegen. Dann erfindet Luther die Sprache neu, gibt der Botschaft Bilder, lässt Menschen Erlösung lesen und glättet seine Haut.

Wer die ersten zehn Seiten von Zaimoglus Worttaucherei übersteht, auf den wartet ein Spracherlebnis.

Hier gibt es noch mehr Informationen:

http://www.deutschlandradiokultur.de/feridun-zaimoglu-ueber-seinen-roman-evangelio-diese-worte.1270.de.html?dram:article_id=380840

https://www.ndr.de/kultur/buch/buchdesmonats/Feridun-Zaimoglu-Evangelio,evangelio102.html

http://www.kulturradio.de/rezensionen/buch/2017/03/Feridun-Zaimoglu-Evangelio.html

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Alissa Ganijewa
Eine Liebe im Kaukasus


Suhrkamp

 

 

In diesem Roman stimmt nichts! Es ist eine verrückte Welt dort im postsowjetischen Dagestan, irgendwo in einem Ort an der Bahnstrecke zum Kaspischen Meer, einer Welt, der beim Spagat zwischen Tradition und Moderne die Sehnen gerissen sind. Die 25-jährige Patja und der Rechtsanwalt Marat arbeiten beide in Moskau, treffen sich aber erst in ihrem Heimatort. Marats Mutter hat schon einen Hochzeitssaal gemietet, allein es fehlt noch die Braut. Nervenzehrend führt sie ihrem Sohn eine nach der anderen vor – sein Widerstand lässt langsam nach. Patja hingegen muss sich der Avancen des paschahaften Timur erwehren, der ihr mit psychischer Gewalt nachstellt. Im Hintergrund der Kampf der alten sufistischen Moschee und der eindringenden wahabitischen, der Kampf zwischen Folklore und Konsum, Aberglaube und Internet. Dazu kommt noch der schillernde Oligarch Halilbek, der je nach Perspektive als mafiöser Verbrecher oder als väterlicher Heiliger gesehen wird.

Die Sprache des Romans ist ein Feuerwerk, mit ihr begegnet die Autorin in einer Art Notwehr der grotesken Welt ihrer Heimat. Ein Hinweis: Wer nicht gerade ein Spezialist für Sufismus ist und über profunde Kenntnisse der Geschichte Dagestans verfügt, sollte das Schlusskapitel „Hinweise für den uneingeweihten Leser“ der Übersetzerin vorab lesen. Hier gibt es noch eine Leseprobe und einen Hörfunkbeitrag des WDR.

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Ian Caldwell
Das geheime Evangelium


Rütten & Loening

 


Endlich wieder ein Vatikan-Thriller, noch dazu ein richtig guter. Der Kurator einer Ausstellung im Vatikan um das Turiner Grabtuch wird ermordet in Castel Gandolfo aufgefunden. Der orthodoxe Priester Simon gerät unter Verdacht und wird vor ein vatikanisches Geheimgericht gestellt. Sein Bruder, ein ostkatholischer Priester – ja, das gibt es! – recherchiert, gerät aber selbst zwischen Fronten, die er nicht durchschaut. Der Kurator hatte nämlich eine uralte Schrift entdeckt, aus der hervorgeht, dass das Grabtuch zuerst in Besitz der Ostkirche gewesen sein soll, also von den „westlichen“ Katholiken während der Kreuzzüge geklaut wurde.

Das Ganze wird dadurch aktuell und brisant, weil der Papst die Aussöhnung mit den Orthodoxen sucht. Und die hat im Vatikan mächtige Gegner, die offensichtlich vor nichts zurückschrecken. Als Zugabe gibt es eine Extra-Stunde in moderner Bibelauslegung. Wie schön doch Verschwörung sein kann, wenn sie im auf heiligem Boden stattfindet.

Wer mal reinhören möchte, kann dies hier tun.

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Till Raether
Fallwind


rowohlt

 

 

Adam Danowski, Kriminalkommissar, hat einen prall gefüllten Rucksack auf, voll der eigenen Geschichte. Dienstliche Verfehlungen, Burnout, Versetzung. Die früh verstorbene Mutter erscheint als „Stressanker“ in den Szenen, der real lebende Vater hütet seine Kinder zu Hause. Dazwischen ein erschütterndes Familiengeheimnis. Aber halt, das ist doch ein Krimi – also zum Fall: Aber auch da geht es trübsinnig zu. In einer grauen Nordseestadt wird eine Frau am Leuchtturm gefunden. Sie gehörte als Jugendliche zu den drei Leuchtturmkindern, die unter der Woche in einer Pflegefamilie wohnten, scheinbar unbescholtene Lehrer. Deren Sohn war mit den Mädchen befreundet. Als nun die zweite des Trios ebenfalls tot unterm Turm gefunden wird, wird Danowski klar, dass sich hier die Webstücke der Vergangenheit in der Gegenwart neu zusammensetzen, ganz wie im eigenen Leben.

Oder ist das alles nur Psychospielerei und ist der windige Windkraftbetreiber eigentlich treibende Kraft des Verbrechens? Waghalsige Finanzgeschäfte, in die eine der Toten verwickelt war, treten zu tage. Raether schreibt hier einen Krimi, der voller feinsinniger psychologischer Verästelungen ist, nicht konstruiert, sondern realistisch. Es kommt Spannung auf, ganz ohne Gewalt und Horror. Aber warum wacht er ganz am Anfang des Buches hoch oben in einer Gondel eines Windkraftrades auf?

Viel ausführlicher schreibt der NDR über den Krimi und mehr über den Autor gibt es auf seiner Homepage.

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Selva Almada
Sengender Wind


Berenberg

 


Die Pampa inmitten Argentiniens, heiß, trocken, öde. Reverend Pearson verreckt das Auto, findet aber irgendwo im Nirgendwo die Werkstatt von Gringo Brauer. Die schlechtgelaunte Tochter des frommen Mannes freundet sich während der Reparatur mit dem Jungen Tapioca an, den der Mechaniker aufgenommen hat.

Der Reverend hat nichts Besseres zu tun als Tapioca für Jesus zu gewinnen und ihm die Seele zurecht zu meißeln. Doch Gringo hat etwas dagegen. Einerseits würde er hier in der Wüste allein zurückbleiben, wenn Pearson den Jungen mit in die Stadt nähme, anderseits kann er mit der Religion des Predigers nichts anfangen: Das sei etwas, um sich vor der Verantwortung zu drücken, indem man dem Teufel die Schuld in die Schuhe schiebt. Gringo hält sich an seine Berge, in denen er das Leben spürt. Der Prediger und der Mechaniker umtost von einem nächtlichen Unwetter einen Zweikampf aus, während sich zwischen der Tochter des Gottesmannes und dem schweigsamen Ziehsohn des einsamen Wolfs ganz andere Beziehungen anbahnen.

Tatsächlich bleibt der Glaube des Reverend blutleer. Es bleibt bei einer Möchtegern-Mystik: „Öffnet Jesus eure Brust!“ Das Auto läuft am Schluss wieder, aber wer fährt mit, wer bleibt?

Dem rbb-Kulturradio gefällt das auch!

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Hans Rath
Und Gott sprach: Du musst mir helfen


Wunderlich

 


Es ist Winter. Jakob Jakobi, Psychiater, der anderen hilft und dem selbst nur schwer zu helfen ist, ist gerade von zwei Kleinkriminellen abgezogen worden. Plötzlich steht Abel Baumann vor der Tür, ein ehemaliger Patient, der vorgibt, Gott zu sein. Und wirklich geschehen ab und zu Wunder, wenn er da ist. Beim gemeinsamen Frühstück eröffnet ihm Abel fast nebenbei, dass er Jakob auserwählt hat: Welthunger bekämpfen, Kriege beenden, gerechte Welt schaffen. Jakob streubt sich – ganz in alttestamentarischer Prophetentradition – gegen den Job als Messias, nicht zuletzt deswegen, weil ihm Abel ausgerechnet die Kleinkriminellen als Jünger zur Seite stellt. Aber die Geschichte ist ja noch nicht zuende. Die Bücher von Hans Rath, es sind schon zwei Bände zuvor erschienen, sind mit christlichem Vergnügen zu lesen, weil er feine Ironie, kluge philosophische Gedanken und Respekt vor Glaubensdingen verbindet.

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Andreas Föhr
Totensonntag


Knaur

 


Krimis und Religion haben eines gemeinsam: Sie beschäftigen sich mit Schuld. Was aber Andreas Föhr hier seinen Kommissar Wallner erleben lässt, ist schier unvorstellbar. Ein Geiselnehmer, eigentlich ein bekannter Kleinkrimineller, stützt sich aus einer Materialseilbahn. Kurz darauf entdeckt Kollege Kreuthner in der Krypta einer kleinen Privatkirche in einem seltsam verzierten Sarg ein Skelett mit einer Kugel im Schädel. Auf der Messingplatte ist „Frieda Jonas 24.3.1921- 2.5.1945“ eingraviert. Von nun an oszilliert das Buch zwischen der Zeit des nahen Kriegsendes und der Gegenwart. Die Dorfbewohner von Dürnbach lassen den Kommissar ins Schweigen laufen, niemand will sich an eine Frau dieses Namens erinnern, nur eine Verrückte hat manchmal helle Momente. Als aber Fotos aus der Zeit auftauchen, gerät das Schweigen in Bewegung, der Besitzer wird ermordet, die Fotos gestohlen. Die spießbürgerlichen Dorffeindschaften entblößen ihre Wurzeln, die in die Zeit des Krieges zurückreichen, Gegenwart und Vergangenheit kommen sich immer näher – so weit, dass die finsteren Figuren aus der dunklen Zeit ans Licht der Jetztzeit gezerrt werden. Ständig entwirft der Leser neue Schuldzuweisungen, immer wieder werden sie zerschlagen. Das ist aber kein bloßes Spiel zur Steigerung der Spannung, sondern eine kluge Auseinandersetzung mit der Schuld.

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Phil Rickman
Sündenflut


rororo

 


Die Exorzistin der anglikanischen Kirche... Verzeihung, die Beauftragte für spirituelle Grenzfragen in Herfordshire Merrily Watkins bekommt nasse Füße. Ihre Heimatgemeinde droht überflutet zu werden. Der einzige, der sich da sicher fühlt, ist der von einer Fatwa verfolgte Religionskritiker, der ins ländliche, aber keinesfalls unschuldige Ledwardine geflohen ist. Die rauchende Pfarrerin hat zusätzlich Ärger mit einer archäologischen Ausgrabung: Militanten Christen passt das urzeitliche Heiligtum ebenso wenig in den Plan wie den Atheisten. Zu allem Überfluss treibt auch noch ein Mörder sein Unwesen. Der bislang zehnte Krimi mit theologisch-kirchlichem Hintergrund und eine Protagonistin, die sehr komplex ist, ohne den Boden unter den Füßen zu verlieren. Bitte nur im Urlaub lesen, sonst bleibt die Arbeit liegen.

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Assaf Gavron
Auf fremdem Land


Luchterhand

 


Erst einer, dann zwei, es werden immer mehr Wohnwagen. Sie stehen da, wo sie nicht stehen dürften: Im Naturschutzgebiet, zu nah an der militärischen Sicherheitszone, teils auf dem Boden eines palästinensischen Dorfes. Die illegale Siedlung in den Hügeln der Westbank wächst und zieht ganz unterschiedliche Menschen an. Otniel, der Gründer, hat nur Tomaten und Rucola im Sinn, Roni war Banker in New York und sein Bruder Gabi sucht seinen Frieden im jüdischen Chassidismus. Und dann ist da der arabische Familienvater, der Öl presst aus Oliven von Bäumen, die zehnmal so alt sind wie der Staat Israel.

Es ist ein verstörender Blick in die Siedlerseele, oft kaum auszuhalten. Der Autor hat immer wieder Siedler besucht, hat sich ihnen ohne Vorurteile genähert. Obwohl die 340.000 Siedler ein weltpolitisches Pulverfass sind, gibt es kaum politische, soziologische oder religiöse Studien über sie und ihr Leben. Gavron legt das Innere dieser Bewegung in einer Weise offen, die mit brutal nur unzureichend beschrieben ist. Oft habe ich das Buch kopfschüttelnd beiseitegelegt – hart zu akzeptieren, dass es ein unideologisches Buch über israelische Siedler geben kann. Aber der Autor packt einen immer wieder mit seiner schonungslosen Sprache, bei der man nicht immer weiß, ob sie sarkastisch, ironisch oder ernst gemeint ist.

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Ingrid Noll
Hab und Gier


Diogenes

 


Ein unanständiges Angebot: Der kinderlose Witwer Wolfram macht seiner ehemaligen Kollegin Karla aus der Bibliothek eine Offerte: Wenn Sie ihn bis zu seinem Tod, und der scheint nicht allzu weit entfernt, pflegt, vermacht er ihr das halbe Erbe. Nicht unattraktiv, besteht es denn aus einem veritablen Haus in der besseren Gegend der Sta. Karla ist früh in Rente gegangen, ihre viel jüngere Freundin Judith bekommt Wind von der Sache. Sie ist mit Feuereifer dabei, bezirzt Wolfram, Eifersucht sickert zwischen die beiden Freundinnen. Naschforsch, so würde es Judith angehen, skrupulös-verantwortungsvoll, das wäre der Weg von Karla. Aber da ist noch der Ex von Judith, der sich in das Haus einschleicht und in vorauseilendem Gehorsam Schreckliches begeht. Eine schwarze Komödie, die aber eine ernsten Blick wirft auf die nicht sterben wollende Generation der Alten.

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J.M. Coetzee
Die Kindheit Jesu


S. Fischer

 


Der kleine David kommt über den Ozean in ein neues Land, hat aber auf dem Schiff den Brief verloren, der seine Vergangenheit und den Aufenthaltsort seiner Eltern enthielt. Simón, ein älterer Mann, nimmt sich seiner an und versucht – selbst fremd im fremden Land – eine Mutter für ihn zu finden.

Zuerst aber muss Arbeit finden, er schleppt schwere Säcke am Hafen und philosophiert mit den Arbeitern. Das tut er aber auch mit David. Hier spielt die Geschichte von Don Quichote eine zentrale Rolle, der die Welt sieht, wie er will. So ist auch David. Er sträubt sich gegen die Allgemeingültigkeit der Mathematik, er hat seine eigene. Als er aufgefordert wird, die Wahrheit zu sagen, entgegnet er: „Ich bin die Wahrheit.“

In einer Wohnanlage für Reiche meint Simón eine Mutter für David gefunden zu haben. Inès nimmt David als Sohn an, zieht in Simóns winzige Wohnung und verdrängt ihn. Inès wird umgekrempelt: Aus einer heimatlosen Frau mit Cocktails und Tennis wird eine Mutter. Aber David will sich nicht einfügen, er sucht nicht nach Sicherheit, sondern nach einem neuen Leben.

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Frank Goosen ea.
Die schlimme Zeit zwischen Aufstehen und Hinlegen


rowohlt polaris

 


Ich mag keine kurzen Sachen, keine Kurzgeschichten. Aber dieses Buch ist dazu geeignet, nein, es schreit danach, am Frühstückstisch vorgelesen zu werden. Man kann sich ja über vieles ärgern, und die meisten Menschen können das sehr gut: Über Nachbarn, Call-Center-Angestellte, U-Bahn-Musikanten, fiese Geräte oder noch aufzubauende Fertigmöbel. Oder Ämter und Unternehmen (Die Bahn). Das Wetter! Aber nur die wenigsten Menschen vermögen das Genervtsein mit Humor, Selbstironie und sprachlicher Schärfe auszudrücken und schließlich zu überwinden. Es ist eine hohe Kunst, den Alltag zu beobachten, zu analysieren und in die Spiegel zu schauen. Und es ist eine wichtige Kunst, besteht denn das Leben der Menschen zu 90 Prozent aus Alltag. Also lesen, lesen, lesen.

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Friedrich Ani
M

Ein Tabor-Süden-Roman


Droemer


Manche können Ani nur in der hellen Jahreszeit lesen, er schürft immer am Bodensatz der Existenz, was nicht immer leicht ist. Die Journalistin Mia Liebergesell beauftragt die Detektei, ihren Lebensgefährten zu suchen. Obwohl Süden und seine Kollegen die Klientin äußerst seltsam finden, machen sie ihre Arbeit und stoßen auf Hinweise auf die Neonazi-Szene. Als dann auch noch das LKA auftaucht und mehr zu vertuschen sucht als zur Aufklärung beizutragen, obwohl es wahrscheinlich ist, dass der Gesuchte ein V-Mann war (oder noch ist), ermitteln sie - obwohl sie das Gefühl haben, dass niemand ein Interesse an der Aufklärung hat und sie sich selbst in Gefahr bringen. Zum einen kann man es als spannende Kriminalgeschichte lesen, zum anderen aber wäre es genug, die inneren Kämpfe und Konfrontationen der Ermittler mit ihrer Vergangenheit aufzunehmen. Ani schreibt Bücher mit Sogwirkung, dankenswerterweise schreibt er schnell und oft.

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Phil Rickman
Das Geheimnis des Schmerzes


rororo

 


Pfarrerin Merrily Watkins, in ihrer Diözese mit dem Amt der „Beraterin für spirituelle Grenzfragen“ betraut, ermittelt nicht nur an den Grenzen der Existenz, sondern auch an denen der Realität. In der Gemeinde der Landpfarrerin und „Exorzistin“ wird ein reicher Bauer grausam abgeschlachtet. Eine rechte Bewegung, die sich „Das Land wehrt sich“ nennt, lastet alles der „Überfremdung“ durch osteuropäische Landarbeiter an. Wenig später findet man zwei junge Rumäninnen tot auf einem Parkplatz. Marrily stolpert über den Fall eines Priesterkollegen, der kurz vor seinem rätselhaften Tod ein beunruhigendes Interesse an Exorzismus entwickelte. Sie geht der Sache nach und stößt auf alte, uralte Geschichten, die weit in die Vergangenheit führen, in Zeiten, in denen sich Römer und Kelten in England Schlachten lieferten und der blutige Mithraskult Opfer forderte. Und da ist noch Lol, Lebenspartner und Musiker, und ihre fast – aber eben nur fast – erwachsene Tochter und die ständigen weiblichen(?) Zweifel an ihrer Kompetenz.

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Andreas Hoppert
Bruderherz


Gabriel

 


Zwei ungleiche Brüder: Kain Wellershoff, der Firmennachfolger einerseits, und Abel, der mittellose Künstler andererseits, jahrelang verschollen, jetzt wieder zum Geburtstag seines Vater aufgetaucht – und gleich wieder verschwunden. Kain wird auf Grund von Indizien des Mordes verdächtigt, Abels Leiche fehlt allerdings. Die Anwältin Hanna Simoneit versucht kühl und professionell, Kain mit allen Mitteln rauszuhauen. Aber es will ihr nicht gelingen, auch wenn sie den Journalisten George an und auf ihrer Seite hat. Schließlich sind Gerichtsprozesse dieser Art auch Medienschlachten. Doch die Vorgänge am Geburtstagabend bleiben im Dunkeln, trotzdem die Anwältin viel Geld und mehrere Detektive einsetzt, um den verschwundenen Abel zu finden.

Es bliebe nur ein spannender Krimi, wären da nicht zwei biblische Brüdergeschichten, die sich in den Figuren niederschlagen: Da ist zum einen offensichtlich die Geschichte des Brudermords von Kain an Abel, in der es um Neid und letztlich auch Macht geht. Aber fast noch subtiler ist die Interpretation des Verlorenen Sohns, wobei der Heimkehrer sein Willkommensfest allerdings nicht überlebt – beide biblischen Motive erschließen den Kriminalfall schließlich. Eine spannende theologische Unterhaltung also.

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